Stundenbuch
"Remake" eines Stundenbuchs aus dem frühen 16. Jahrhundert und Versuch ein 500 Jahre altes Buch als zeitgenössisches Künstlerbuch neu herauszubringen. Mitte 2009 stieß ich im Internet auf die digitalisierte Version einer Handschrift aus dem Bestand der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: das Stundenbuch Herzog Augusts des Jüngeren. Schon seit einiger Zeit hatte ich mich mit früher Buchkunst beschäftigt und überlegt, ob es möglich sei, sich mit diesem Gebiet auseinanderzusetzen und ein nicht nostalgisches Objekt heutiger Buchkunst zu produzieren. Ich merkte bald, dass die Pergament-Handschrift ein guter Ausgangspunkt dafür war. Den Ausschlag gab schließlich die mittelniederdeutsche Sprache des Stundenbuchs, der ich mit der Zeit auch als Laie ganz gut folgen konnte. Anhand der digitalisierten Stundenbuch-Version konnte ich die Texte transkribieren. Die für mich ungewohnte Tätigkeit der Transkription aus einer Sprache, die seit Jahrhunderten nicht mehr gesprochen wird (wie mir schien eine Mischung aus Niederländisch, Deutsch und Englisch, durchsetzt mit lateinischen Wörtern und mir bis dahin unbekannten Abkürzungen), erwies sich als interessant und spannend. Es war wie eine Zeitreise, und es überraschte mich, wie gut ich die Psalmen und Gebete nach und nach verstehen konnte. Trotzdem blieb es ein mühsamer Prozess. Denn obwohl ich durchaus vertraut mit gebrochenen Druckschriften bin, stellte die handgeschriebene Textura mit ihren vielen Abkürzungen immer wieder eine Herausforderung dar. Aber am Ende konnte ich doch alle Texte, bis auf wenige Ausnahmen, in das Projekt übernehmen und mit meinem Remake-Versuch beginnen. Dabei folgte ich weitestgehend dem Aufbau des Originals. Allerdings war sein Format (ca. 8,7 x 12,3 cm) für meine Zwecke zu klein. Deshalb hatte ich mich für ein etwa doppelt so großes Format entschieden. An einigen Stellen habe ich im Ablauf Veränderungen vorgenommen, z. B. beim Kalendarium. Im Original-Manuskript beginnt der Monat Januar rechts auf einer Doppelseite und endet auf der folgenden Doppelseite links. Dadurch stehen alle Monate (die immer zwei Seiten umfassen) nie zusammen auf einer Doppelseite. Das habe ich geändert: In meiner Version stehen die Monate jeweils auf einer Doppelseite. Beim Kalendarium habe ich außerdem für die Gestaltung der Bildseiten zeitgenössische Fotografien verwendet. Die anderen Bildseiten enthalten Elemente aus den Miniaturen des digitalisierten Stundenbuchs. Sie sind durch die Rasterung und die Hinzufügung anderer Bildelemente nicht auf den ersten Blick zu erkennen, aber immer vorhanden. Wegen der großen Rasterpunkte entsteht mitunter bei naher Betrachtung im Leseabstand der Eindruck von abstrakten Formen. Bei Betrachtung aus größerer Entfernung treten die Motive deutlich hervor: ein erwünschter Effekt. Die Bilder habe ich am Computer bearbeitet und dann von Polymer-Klischees gedruckt. Dabei konnte ich auf meine Vierfarb-Erfahrungen zurückgreifen, die ich im Vorjahr mit dem Aichinger-Buch Schlechte Wörter gemacht hatte . Dieses Mal verzichtete ich allerdings auf die Schwarz-Platte, wodurch die Farben heller und leuchtender wurden. Schwarze Druckfarbe kommt im ganzen Buch nicht vor, selbst der Text ist mit einem dunklen Grau gedruckt. Dunkle Töne in den Bildseiten ergeben sich durch den Zusammendruck von Rot, Gelb und Blau. Zum Druck der Farben kamen Handvergoldungen mit 22,5 Karat Blattgold hinzu. Die Wahl der verwendeten Schrift, der Akzidenz-Grotesk, hatte verschiedene Gründe. Zum einen sollte es keine historisierende Schrift sein, etwa eine Fraktur, die dem Text einen irgendwie pseudomittelalterlichen Touch verliehen hätte. Zum andern sollte es zwar eine moderne, aber nicht zu kühle und durchkonstruierte Schrift sein. Die um 1900 entworfene Akzidenz-Grotesk, die als Vorläuferin einiger moderner serifenloser Schriften gilt, ist noch nicht so perfektioniert wie ihre Nachfolgerinnen. Gerade deshalb schien sie mir gut geeignet.
Handsatz und Buchdruck. 288 Seiten, 14,5/21 cm, 50 nummerierte und signierte Exemplare. In bedrucktem Schuber. Flörsheim 2010.